Des Oberstleutnants Weihnachtsfest

Humoreske von Teo von Torn
in: „Trierische Landeszeitung” vom 20.12.1902


Oberstleutnant von Koschmar hatte das dürftige blaue Lämpchen, welches sonst bei Dunkelheit in seinem Entree zu brennen pflegte, heute nicht anzünden lassen; ausdrücklich nicht. Er selbst ginge aus — und im übrigen brauche nicht illuminirt zu werden.

Es gab einen Tag oder richtiger einen Abend im Jahr, an welchem der Herr Oberstleutnant eine Abneigung gegen alle überflüssige Beleuchtung hatte.

Unbd das war heute —

Er tastete im Dunkeln nach seinem Pelzmantel und pfiff dem Hunde. Während der langhaarige Setter sich aus seiner Ecke emporrappelte, eilte auch der Bursche aus seiner Thür, um seinem Herrn behilflich zu sein.

„Haben Sie für mich abgesagt im Kasino?”

„Zu Befehl, Herr Oberstleutnant.”

„Liegt sonst noch etwas vor?”

„Bitte gehorsamst — wenn der Herr Oberstleutnant mich auf ein paar Stunden beurlauben wollten —”

„Wozu!”

„Es ist Weihnachtsheiligabend, Herr Oberstleutnant.”

„Sonst nichts?”

Der alte Herr versetzte dem Hunde, welcher sich in der Ausgeh-Freude winselnd an ihn drängte, einen Hieb mit der Säbelscheide, öffnete die Thür zum Flur und trat hinaus. Es schien fast, als wenn die Sache damit erledigt wäre. Aber er wandte sich noch einmal zurück und faßte den Burschen in der hellen Flurbeleuchtung scharf in's Auge.

„Weihnachtsabend! Natürlich! Gemüthskiste aufmachen, nicht wahr? Ist was für Frauensleute und für Kinder, aber nicht für solch' einen ausgewachsenen Lulatsch. Verstanden? Meinetwegen zum Deiwel scheeren — aber nur bis neun! Um neun bin ich wieder zu Hause und geh' in die Klappe.”

Dann schritt er langsam die Treppe hinab und fügte ohne aufzusehen hinzu:

„Auf meinem Schreibtische liegt was für ihn — in einem grauen Couvert —”

„Danke ge— — —”

„Kann er mitnehmen. Maul halten. 'N Abend!”

Unten auf der Straße kramte Oberstleutnant von Koschmar einen Brief aus der Tasche seines Interimsrockes und steckte ihn in die Manteltasche. Dann knöpfte er sich fest in den Pelz und schritt in seiner harten, etwas stelzenden Gangart dicht an den Häuserfronten entlang, um von dem regen Straßenverkehr möglichst wenig berührt zu werden.

Vor allen Dingen suchte er um die Menschen herumzugehen — um diese ganze ungeheuerliche Gemüthskiste, um den unlogischen Freudentaumel mit seinem Quarren und Quietschen, um das herzspannende jauchzende Erwarten auf allen Gesichtern.

Und was erwartete man? Der eine ein Paar gestickte Morgenschuhe, der andere den Moment, wo er seinem Jungen das neue Schaukelpferd vorführen würde oder sonst ein Spielzeug, das nach drei Tagen in seine Bestandtheile zerlegt ist. Und allen gemeinsam winkte der Genuß von allerhand unverdaulichen Dingen. Das war die ganze Geschichte. Das erwartete man und darauf freute man sich. Es war eigentlich zum Kobolzschießen vor Lachen —

Aber der Herr Oberstleutnant schoß nicht Kobolz und er lachte auch nicht.

Als er in einer entlegenen Vorstadt die kleine Weinkneipe seines ehemaligen Burschen und späteren Feldwebels Anton Liebholz betrat, die er seit zehn Jahren alle Heiligabend zu besuchen pflegte, lagerte ein bitter ernster Zug auf seinem verwitterten Gesichte.

Dieser wich einem maßlosen Befremden, als der alte Herr die Veränderungen bemerkte, welche sich hier vollzogen hatten. Das enge, einst so verräucherte und auch sonst wenig saubere Lokal war garnicht wiederzuerkennen: Eine Gaskrone warf blendendes Licht auf neue helle Tapeten, auf das blitzblanke Buffet mit seinen Gläsern und Flaschen und auf das alberne Gesicht eines Kellnerjungen, welcher diensteifrig heranschwänzelte.

„Sag mal, mein Sohn —” fragte Herr von Koschmar, nachdem er sich eine Weile umgesehen, „ist denn das hier recht bei Liebholz?”

„Ganz recht, Herr General — wollen der Herr General nicht ablegen — und was darf ich bringen dem Herrn General —?”

„Vorerst darfst Du mal das Maul halten und nichtb General zu mir sagen. Ich bin nicht General, verstehst Du? Wo ist Herr Liebholz?”

„Nebenan in der Privatwohnung; er hat zu thun.”

„So — na, dann geh' mal nebenan in die Privatwohnung und bestelle, der Oberstleutnant von Koschmar wäre da und ließe fragen, ob Herr Liebholz verrückt geworden sei? Wenn das nicht der Fall ist, dann möchte ich eine Flasche von meinem Rauenthaler und 'was zu essen. Auch für den Hund. — Na wird's bald?”

Der Stift schnappte seine auseinander gefallenen kinnbacken zusammen und entwich zögernd, mit blödem Grinsen.

Herr von Koschmar verharrte noch eine Weille in kopfschüttelndem Betrachten der aufgeputzten Gaststube und legte dann ab. Er hatte sich bereits in einer Ecke niedergelassen, als er sich plötzlich erhob und den Brief aus der Tasche seines Pelzmantels zerte. Er hatte ihn auf dem ganzen Wege in der Hand gehalten — ihn befühlt und gestreichelt und zerknittert, so daß er sich ziemlich schwer aus dem Kouvert löste. Jetzt strich der alte Herr das Papier auf dem Tische glatt, stützte den eisgrauen Kopf in beide Hände und vertiefte sich in den Inhalt. Er hatte sie wohl schon fünfzig Mal gelesen, diese wenigen ungelenken Zeilen einer Kinderhand:

„Lieber Großpapa!

Wie in jedem Jahrw seit ich schreiben kann, schick ich Dir einen schönen Weihnachtsgruß und ich bitt' Dich vieltausenmal von Mammi und Pappi, daß Du doch gut sein und zu uns kommen möchtest. Es ist wirklich so schön bei uns und ic bekomme dießmal wahrscheinlich eine Eisenbahn mit einer richtigen Lokomotive. Wo soll ich aber Spaß daran haben, wenn Mammi immerzu weint, sobald der Weihnachtsbaum angesteckt ist und dann kniet sie vor Deinem Bild im kleinen Salong und bittet immer, daß Du gut sein und zu uns kommen möchtest. Ein Pingpong kriege ich wahrscheinlich auch und eine neue Schultasche. Von der alten hat mir Fritz Schöler bei einer Keilerei den Deckel halb abgerissen. Aber ich habe ihn untergekriegt. Womit ich Dich bitte, daß Du kommen möchtest.

Dein Dich liebender Thed.”

Schuft hatte die struppige Schnauze auf das Knie seines Herrn gelegt und schaute diesem aus menschenklugen Augen unverwandt in's Gesicht. Er mochte da etwas sonderbares bemerkt haben; denn er winselte leise auf und leckte dann wie rasend die Hand, welche sich ihm auf den Schädel legte.

Der Oberstleutnant hatte gar nicht bemerkt, daß Anton Liebholz mit etwas gekniffenem Gruße eingetreten war. Erst als dieser die Rauenthaler vor ihm hinstellte, sah er auf.

„Da sind Sie ja, Liebholz! Wollen Sie mir mal sagen, weshalb Sie aus Ihrer gemüthlichen Kneipe so einen geschniegelten Affenkasten gemacht haben, he? Wohl kleinen Raps bekommen plötzlich, was? Und wie sehen Sie denn aus überhaupt? Haben ja sogar einen weißen Hemdkragen um und einen Schlips! Mensch, was ist denn mit Ihnen passirt!”

„Herr Oberstleutnant —” druckste Anton Liebholz, indem seine kolossalen Pranken versuchten, die Lehne des Stuhls abzubrechen, den er in seiner Verlegenheit ergriffen hatte. „Es ist allerdings manches anders geworden seit dem vorigen Jahr. Und es ging auch nicht so weiter. Man verschlampte ja reine. Aber würden der Herr Oberstleutnant uns vielleicht die hohe Ehre erweisen, ein bischen zu uns rüberzukommen —”

„Uns —? Sind Sie denn doppelt geworden — in drei Deuwels Namen?”

„Das gerade nicht. Aber — ich habe geheirathet und 'was Kleines ist auch schon da — und es werden eben die Lichter angesteckt, Herr Oberstleutnant — und wir werden uns sehr freuen — da der Herr Oberstleutnant doch so allein stehen —”

„Geheirathet —! Lichter angesteckt —! Daß Dich Dieser und Jener . . . . .” schnaubte der alte Herr, „hast Du das in den zehn Jahren nicht tausend Mal verschworen?”

„Herr Oberstleutnant. jeder Mensch bekommt einmal seine Zeit, wo er vernünftig wird. Der eine früher, der andere später. Bei mir ist sie schon gekommen. Und es ist was wunderbares um so ein bischen Familie. Man wird überhaupt erst Mensch und — —”

Eine ungeschulte, aber helle und schöne Frauenstimme intonirte nebenan das alte unvergängliche „Stille, Nacht, heilige Nacht —”, dazwischen quarrte ein Baby — und als Anton Liebholz zur Thür trat und sie öffnete, drang ein schier überirdischer Schimmer in die Gaststube, ein Licht, das die neue helle Gaskrone noch weit überstrahlte.

Der alte Herr stand wie vom Blitze getroffen. Dann ging ein Zucken und Zittern durch seine untersetzte Gestalt. Er warf ein Goldstück auf den Tisch und taumelte wie ein Trunkener nach seinem Mantel.

Wortlos ging er davon.

Gab es denn auf der weiten Welt keine Stelle, wo nicht Weihnachten gefeiert wurde? Der alte Esel von Liebholz feierte nun auch. Alle Menschen feiern! Selbst ungerathene Kinder, die sich über den Willen des Vaters hinwegsetzten — wie sein Kind beispielsweise, das sich von so einem Farbenkleckser hatte heirathen lassen, gegen den Willen und ohne den Segen des Vaters. Trotzdem ging es ihnen gut, wie er gehört hatte, sehr gut. Mußte doch wohl etwas recht überflüssiges sein, so ein Vaterssegen! Oder sollte es wahr sein und nicht eingelernt, was der Bub da schrieb? Er war nun neun Jahre alt — wie er wohl aussehen mochte! Und den andern Jungen, den, der ihm die Schulmappe zerrissen, den hatte er richtig untergekriegt — —

In seiner harten, stelzenden Gangart schritt der alte Herr wieder dicht an den Häuserfronten entlang — nach Hause, wo allein nicht Weihnachten gefeiert wurde.

Und als es dann von den Thürmen her einsetzte — erst in einzelnen klingenden Schlägen, dann immer lauter und voller, bis die dröhnenden Akkorde das Herz erzittern machten, da setzte er sich auf eine der verschneiten Bänke an der Promenade, die er eben passirte, preßte den Kopf seines Hundes fest an sich und wünschte sich eine tiefe Stelle unter der weißen Erde, um nichts zu sehen und nichts zu hören. So saß er stundenlang.

Als er heimkehrte, war es neun Uhr.

Im Entree war es dunkel — nur hinten in der Ecke, wo der Setter seinen Platz hatte, brannte ein einziges Licht — und als der Oberstleutnant genauer hinschaute, sah er, daß dieses Licht auf einem Tannenbäumchen steckte, das mit Würsten und Kringeln behangen war. Schuft schaute mit glänzenden Augen und krümmte sich vor kaum gezügelter Begeisterung.

„Ruschke —!”

Der Bursche stürmte aus seiner Thüre.

„Ruschke — —” sagte der alte Herr mit seltsam belegter Stimme, „was soll denn das da!”

„Herr Oberstleutnant,” erwiderte der Soldat treuherzig, „das ist für den Schuft. der Herr Oberstleutnant haben mir so viel Geld geschenkt &mdash, und ich hab' mich so gefreut — und da hab' ich mir gedacht, der Hund soll auch Weihnachten haben — —”

Der Alte schluckte und rang nach Worten. Er krampfte die Hände in den Taschen — und in der einen Hand knisterte der Brief. —

„Das — das ist gut, Ruschke. Laß das Biest sich freuen. Es ist doch nichts ohne Weihnachten. Ich gehe noch mal fort, Ruschke — und Sie können mitkommen. Werden wir ein Schaukelpferd tragen. Oder wissen Sie sonst, was so einen neunjährigen Bengel recht freuen könnte?”

„Zu Befehl, Herr Oberstleutnant.” Der Bursche lachte über's ganze Gesicht.

„Na denn dalli, Ruschke —! Den Schuft lassen wir hier, der hat seinen Weihnachten.”

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